Ein Paradoxon zum Nachdenken

Editorial
Issue
2023/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/cvm.2023.02289
Cardiovasc Med. 2023;26(04):107-109

Published on 02.08.2023

Thomas Lüscher
Senior Editor

In the Old Days

Damals, in tiefer Vergangenheit, ging es gelegentlich wild zu und her, wie sich manche erinnern werden: Die Visite war ein gefürchtetes Ereignis und wollte gut vorbereitet sein. Wenn Professor Siegenthaler, unzweifelhaft eine Koryphäe seines Fachs, mit kaltem Blick hinter seiner Hornbrille hervorlugte und mit drohender Freundlichkeit nach Befunden, Kalium-spiegeln, Nierenfunktion und mehr fragte, gab es kein Entrinnen: Entweder man wusste es oder man geriet auf die Abschussliste. Noch unfreundlicher ging es in der Chirurgie zu: Professor Yasargil, Neurosurgeon of the Century, wusste Bewunderer aus der ganzen Welt um sich zu scharen. Die staunten ob der chirurgischen Künste, die es zu sehen gab; wagte einer eine Bemerkung oder eine Frage, flogen Messer durch den Saal. Noch unvorsichtiger war der Schreibende, als er sich dazu hinreissen liess, eine Dame vor der Operation auf mögliche Komplikationen hinzuweisen. Als dies zum Chef drang, stampfte dieser wutentbrannt durch den Wachsaal, durch eine Türe hinaus, um beim zweiten Eingang nicht weniger erregt wieder zu erscheinen. Im Katheterlabor herrschte Professor Kräyenbühl, international für seine Forschung bewundert, vor Ort gefürchtet. Lief nicht alles nach seinem Schnürchen, wüteten Stahlgewitter durch den Raum. Auch im Echolabor herrschte Gewitterstimmung, es empfahl sich, nicht unbedarft in die dunklen Räume zu treten. Eher eignete sich ein telefonischer Versuch. Neben dem Telefon gab es eine Anleitung: Hörer abheben, 3447 einstellen, tief durchatmen, Hörer weit weghalten, abwarten, dann Anliegen vorbringen.

Leben in wilden Zeiten

Wie erging es damals den Assistenten und Assistentinnen? Man ertrug das Unvermeidliche, ja lachte über die jüngsten Streiche der Götter in Weiss, frei nach Nietzsche: «Aus der Kriegsschule des Lebens. – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker» [1]. Gewiss, gut fand das keiner; ja, der Schreibende schwor sich, dies einmal anders zu machen. Und es ging anders: Über die Jahre wurde die Atmosphäre entspannter. Die FMH tat das Ihre, man hatte Anrecht auf eine Weiterbildung, konnte die Anzahl Untersuchungen und Eingriffe für den Facharzt einfordern. Ja, Kliniken wurden an den Bewertungen ihrer Assistent:innen gemessen und ein Core Curriculum geschaffen [2]. Die Arbeitszeiten wurden kürzer, ein 24 Stunden Einsatz war nicht mehr möglich, die Wochenarbeitszeit sank auf 50 Stunden und die Chefs mussten ihre Assistenten und Assistentinnen um 18:00 Uhr nach Hause schicken. Alles schien in Butter.

Die Neuzeit

Entgegen den Erwartungen kam es anders: Ein Paradoxon (altgriechisch parádoxos: wider Erwarten) – unvermutet lesen wir von Burnouts junger Ärzte und Ärztinnen, ja von Panikattacken beim Eintritt ins Spital, Angstzuständen im Notfall. Wollen wir den Medien glauben, handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern um eine Epidemie. Zwei Drittel der jungen Ärzt:innen, so lesen wir, zeigten Anzeichen von Erschöpfung, ein Fünftel habe Medikamente zu sich genommen. Als Folge wird die 42 Stunden Woche bei gleichem Lohn gefordert. Über Forschung nach Feierabend oder gar am Wochenende wird nicht gesprochen.
Was ist mit dem Nachwuchs los? Der Erfahrene verfolgt verdutzt die laufenden Ereignisse und reibt sich die Augen. Gewiss, die COVID-19 Epidemie mag als Katalysator gewirkt haben und bei allen Fortschritten liegt Einiges im Argen: Die Administration hat über die Masse zugenommen, alles muss dokumentiert, codiert, bewilligt, gescannt und versandt werden. Die Versicherungen wollen mitreden, der Finanzcontroller sowieso, Mails und Telefonate zu Indikation und Kosten sind die Folgen. Die Aufklärung von Patient:innen erfordert immer längere Dokumente, die Juristen und nicht der Sache dienen. Die Hospitalisationszeit muss kurz gehalten und alles im Stundenschlag organsiert werden – Gegenwartsschrumpfung auch hier, der Zeitdruck wächst, keine Frage. Das eigentlich Medizinische wird zur Nebensache, man versteht den Frust der jüngsten Generation.

Kulturwandel

Doch es ist mehr: Wir erleben einen unaufhaltsamen Wandel von der Helden- zur Opferkultur [3]. Robert Koch, Werner Forssmann, Ake Senning und Andreas Grüntzig sind ein Auslaufmodell. Die zunehmende Entmündigung von Ärzten und Ärztinnen, der Medizin-historiker Paul Unschuld spricht von Deprofessionalisierung [4], ist die unvermeidbare Folge: Was einst als Rat vom Patienten erwartet und ihnen zugestanden wurde, wird durch Fach-arzttitel, Entrustable Professional Activities (EPA), Fähigkeitszeugnisse, Guidelines, ethische Richtlinien, Krankenkassenauflagen, Verordnungen und eine wuchernde Bürokratie eingeengt. Was man noch untersuchen und verordnen kann, muss mit nichtärztlichen Entscheidungsträgern abgestimmt werden – kurz, wir wurden von Gestaltern zu Vollstreckern einer verordneten Medizin [5]. Dass die Begeisterung für den Beruf litt, kann nicht überraschen.
Eine weiteres kam dazu: Life-Work-Balance ist wichtiger als Karriere, ein Teilzeitjob scheint der Traum der jüngsten Generation. Vergessen wird, dass es zu Anfang jeder Berufsausübung Einsatz braucht, man lernt für die Zukunft nicht mit reduzierten Arbeitszeiten – es ist wie beim Fliegen: Wer die Cruising Altitude nicht erreicht, kann nicht weit gelangen. Die Erfahrung kommt nicht über Nacht, das Handwerk will erlernt sein. Die Beziehung zwischen Eingriffsvolumen und Kompetenz ist belegt [6], im Teilzeitpensum ist dies kaum zu erreichen [7]. Gewiss, nicht alle leiden, es gibt zum Glück noch die Hochmotivierten, die ihre Zukunft im Auge haben – dennoch gibt dieses Paradoxon zu denken.
Eine Schönwetterhaltung scheint sich durchzusetzen; die Arbeit muss easy und fun sein – und das sollte sie gewiss, aber nicht immer. Sigmund Freud sprach vom Lust- und Realitätsprinzip [8], das Letztere kommt offenbar Einigen abhanden. Der Marshmallow Test hat es aufgezeigt: Wer schon als Kind im Hinblick auf eine spätere, grössere Belohnung zu verzichten weiss, kommt im Leben weiter [9]. Wenn Watts et al. dies weitgehend auf die familiäre Situation zurückführen [10], belegt das nur einmal mehr, dass kulturelle Faktoren den Gratifikationsaufschub bestimmen – wer dies zu Hause lernt, kommt weiter. Haben die Baby Boomer Eltern versagt? Kinder vor den Tücken des Lebens zu bewahren ist gewiss nicht leitend; die Auswirkungen sehen wir heute.

Die Konkurrenz schläft nicht

Die kleine Schweiz hat für die Medizin Beeindruckendes geleistet: In der Herzchirurgie [11] und Kardiologie [12, 13], der Neurochirurgie [14] und Pädiatrie, der Endokrinologie [15] und Immunologie gestalteten Schweizer das Fach. Nun müssen wir fragen: Wo sind die Schweizer geblieben [16]?
Lässt sich unser Standard so weiter halten? Mit schrumpfenden Arbeitszeiten braucht es deutlich mehr Ärzte und Ärztinnen, um in einer alternden Gesellschaft die Patienten zu betreuen – wo diese herkommen sollen, steht in den Sternen. Die Ausbildung muss sich zwingend verlängern, um das Notwendige mit reduzierten Arbeitszeiten zu erlernen. Für Forschung und Lehre bleibt nur wenig übrig; die Chinesen wird es freuen. Sie werden mit Korea, Japan und denjenigen, die in die USA migrieren, in Zukunft die Forschung prägen. Ja, Schweizer finden sich in den Forschungslaboren unseres Landes immer weniger [16].

Was wäre zu tun?

Zweifellos muss man die Ärzte und Ärztinnen administrativ entlasten, die Bürokratie zermürbt den Nachwuchs. Klinikmanager könnten vieles übernehmen. Dann liesse sich mit Physician Assistants, Clinical Nurse Specialists, Artificial Intelligence und Machine Learning (AI/ML) Einiges gewinnen; gewiss, auch hier herrscht Mangel. Doch liessen sich damit Pflegekräfte in der Medizin halten, wie es die angelsächsische Welt vorlebt.
Dann bieten AI/ML Algorhythmen neue Möglichkeiten: Sie interpretieren bildgebende Verfahren wie die Echokardiographie [17], Magnetresonanz Imaging und Computer Tomographie [18] in Sekundenschnelle und entlasten die Befunder. Andere Algorhythmen entlocken dem EKG mehr Informationen als jeder Kardiologe [19]. Schliesslich leiten programmierte Care Tracks diagnostische Entscheidungen und Spracherkennungsprogramme schreiben Berichte so schnell wie man spricht.
Doch es braucht auch Role Models, Vorbilder also, die begeistern, Arbeit zu einer Erfüllung machen und Wege aufzeigen, wie man sich persönlich und beruflich entwickeln kann. Leider wurde Leadership, man muss das Englische hier verwenden, um Missverständnissen vorzubeugen, auf die schwarze Liste gesetzt. «Götter in Weiss» seien die Chefärzte wird moniert, man bedient Ressentiments, anstatt auf die Bedeutung von Chefs hinzuweisen, die Vision haben und ihre Mitarbeiter fördern, stolz sind, ihr Team zum Erfolg zu führen.

Resilienz und Verwundbarkeit

Zuletzt Resilienz (lateinisch resilire: abprallen, nicht anhaften), die Fähigkeit mit Belastung umzugehen und sie zu nutzen, um sich zu entwickeln – Nietzsches Wort in Ehren [1]. Nur so kann man Notfälle betreuen, nachts um drei Uhr einen Schockierten mit Infarkt behandeln oder eine Operation zu einem guten Ende führen. Jeder muss seine Nische finden, aber reifen kann man nur an Herausforderungen und nicht durch Rückzug ins Schneckenloch des Ichs. Wir sind weniger resilient geworden, anfällig für Mikroaggressionen und Stress [3].
Mit Niederlagen muss man umzugehen lernen, denn sie sind die Vorhalle des Erfolgs. Fehldiagnosen und Komplikationen gehören zur Medizin wie das Amen zur Kirche; doch aus allem lässt sich lernen. Es gilt nach jedem Scheitern, es das nächste Mal besser zu machen. Jede Lernkurve ist eine Bumpy Road [20], keine Autobahn, wie es sich manche vorstellen, aber sie führt weiter. Paradoxa können verwirren, aber auch zu einem tieferen Verständnis führen – wir würden es der Schweizer Medizin wünschen, dass dies so wäre.
1 Nietzsche F. Götzendämmerung, Sprüche und Pfeile. Stuttgart: Kröner Verlag; 1964. S. 82.
2 Tanner FC, Brooks N, Fox KF, Gonçalves L, Kearney P, Michalis L, Pasquet A, Price S, Bonnefoy E, Westwood M, Plummer C, Kirchhof P; ESC Scientific Document Group. ESC Core Curriculum for the Cardiologist. Eur Heart J. 2020;41(38):3605-3692.
3 Campell B, Manning J. The Rise of Victimhood Culture: Microaggressions, Safe Spaces, and the New Culture Wars. Palgrave Macmillan Cham; 2018.
4 Unschuld PU. Der Arzt als Fremdling in der Medizin? München, New York: W. Zuckerschwerdt Verlag; 2005.
5 Lüscher TF. Der Arzt – ein Auslaufmodell? Cardiovasc Med. 2010;13(06):185-189.
6 Spaulding C, Morice M-C, Lancelin B, El Haddad S, Lepage E, Bataille S, Tresca J-P, Mouranche X, Fosse S, Monchi M, de Vernejoul N for the CARDIO-ARIF registry Investigators: Is the volume-outcome relation still an issue in the era of PCI with systematic stenting? Results of the greater Paris area PCI registry. Eur. Heart J. 2006;27:1054–1060.
7 Lüscher TF. Das Arbeitsgesetz und der Geist der Medizin. Cardiovasc Med. 2016;19(06):165-169.
8 Freud S. Jenseits des Lustprinzips. Gesammelte Werke, Band XIII. Frankfurt am Main: Fischer Verlag; 1969. S. 3-69.
9 Mischel W, Shoda Y, Rodriguez MI. Delay of gratification in children. Science. 1989;244(4907):933-938.
10 Watts TW, Duncan GJ, Quan H. Revisiting the Marshmallow Test: A Conceptual Replication Investigating Links Between Early Delay of Gratification and Later Outcomes. Psychol Sci. 2018;29(7):1159-1177.
11 Säuberli A. Ake Senning Pionier der Schweizer Herzchirurgie in Zürich. Cardiovasc Med. 2011;14(04):109-110.
12 Meier B, Bachmann D, Lüscher T. 25 years of coronary angioplasty: almost a fairy tale. Lancet. 2003;361(9356):527.
13 Sigwart U. Living history of medicine: vascular scaffolding, from dream to reality. Eur Heart J. 2017;38(16):1245-1248.
14 Yaşargil MG. Personal considerations on the history of microneurosurgery. J Neurosurg. 2010;112(6):1163-75.
15 Oelz O. In memoriam Ernst Rodolf Froesch. Schw Aerzte Ztg 2014;95(16/17):643.
16 Lüscher TF. Wo sind die Schweizer geblieben? Cardiovas Med. 2010;13(3):77–80.
17 Asch FM, Poilvert N, Abraham T, Jankowski M, Cleve J, Adams M, Romano N, Hong H, Mor-Avi V, Martin RP, Lang RM. Automated Echocardiographic Quantification of Left Ventricular Ejection Fraction Without Volume Measurements Using a Machine Learning Algorithm Mimicking a Human Expert. Circ Cardiovasc Imaging. 2019;12(9):e009303.
18 Oikonomou EK, Marwan M, Desai MY, Mancio J, Alashi A, Hutt Centeno E, Thomas S, Herdman L, Kotanidis CP, Thomas KE, Griffin BP, Flamm SD, Antonopoulos AS, Shirodaria C, Sabharwal N, Deanfield J, Neubauer S, Hopewell JC, Channon KM, Achenbach S, Antoniades C. Non-invasive detection of coronary inflammation using computed tomography and prediction of residual cardiovascular risk (the CRISP CT study): a post-hoc analysis of prospective outcome data. Lancet. 2018;392(10151):929-939.
19 Siontis KC, Noseworthy PA, Attia ZI, Friedman PA. Artificial intelligence-enhanced electrocardiography in cardiovascular disease management. Nat Rev Cardiol. 2021;18(7):465-478.
20 Lüscher TF. The bumpy road to evidence: why many research findings are lost in translation. Eur Heart J. 2013;34(43):3329-3335.

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