Die andere Perspektive – hier, jetzt und mittendrin
Der Arztberuf im Wandel?

Die andere Perspektive – hier, jetzt und mittendrin

Commentary
Issue
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/cvm.2023.1243819042
Cardiovasc Med. 2023;26(05):140-141

Published on 20.09.2023

Spätestens seit dem Wunsch nach einer 42+4-Stunden-Woche für Assistenzärztinnen und -ärzte scheint es mir, als spiele sich in den Spitälern ein Generationenkonflikt ab. Ich bin eine junge Kardiologin und Internistin, Mutter, Partnerin, Tochter, Schwester und Freundin, die ihren Beruf von ganzem Herzen liebt. Von der Matura bis jetzt habe ich mit Disziplin, Fleiss, viel Lesen und Lernen nach der Arbeit und am Wochenende, sowie harter Arbeit meine Karriere in kürzest möglicher Zeit auf den aktuellen Stand gebracht und blicke mit einer gewissen Erfahrung zurück.
Selbstverständlich habe ich in meiner Jugend jegliche Arztserien gesehen und davon geträumt, wie Dr. Marc Green von Emergency Room einem Patienten nach dem anderen das Leben zu retten. Dabei lediglich ein Klemmbrett in der Hand, auf dem zwei bis drei Sätze notiert werden, um dann zum nächsten Patienten zu eilen. Damals wusste ich noch nichts von DRG-relevanten Diagnosen und den ellenlangen Diagnoselisten, auf denen unzählige Unterpunkte aufgeführt werden müssen, damit das Spital am Ende genügend Geld für die Behandlung bekommt. Schon bald nach dem Studium erkannte ich, dass ich als Ärztin viel weniger als erwartet direkt an und mit Patient:innen arbeiten kann. Stattdessen sass ich am Computer und kopierte stundenlang Krankenakten. Liegt hier eine Verwechslung vor? Ich habe doch Medizin studiert und nicht einen sechsjährigen Schreibkurs belegt.
Doch in diesem Punkt herrscht eigentlich Einigkeit, auch Thomas Lüscher [1] sieht das nicht anders. Der administrative Aufwand in den Spitälern ist zu gross. Ärztinnen und Ärzte sollen gemäss ihren Kernkompetenzen eingesetzt werden, für administrative Tätigkeiten gibt es Fachpersonen, die besser dafür ausgebildet sind.
Hingegen scheint Herr Lüscher [1] wie auch einige andere Chefärzte der Meinung zu sein, wir jüngeren Ärzte und Ärztinnen seien ineffizient, nicht belastbar und schlicht nicht mehr in der Lage, richtig zu arbeiten. Sie scheinen nicht wahrzunehmen, dass wir durch das Fortschreiten der medizinischen Technologien und Therapiemöglichkeiten im Spitalalltag zunehmend mit einem älteren und kränkerem Patientenkollektiv konfrontiert sind, welches zudem aufgrund des Kostendrucks auch noch so schnell wie möglich wieder aus dem Spital entlassen werden muss. Der Patienten-Turnover hat sich massiv erhöht. Lagen vor den PCIs Myokardinfarkte gefühlt endlos lange im Spitalbett, sind die meisten STEMI-Patient:innen heute nach vier bis fünf Tagen wieder zu Hause. Das Gleiche kann man auch von den TAVI-Patient:innen sagen. Früher inoperabel und für längere Zeit mit wiederkehrenden Dekompensationen im Spitalbett, muss der Patient heute nach fünf Tagen post-TAVI wieder aus dem Spital sein. Zudem müssen zu diesen Hospitalisationen am Ende oft noch mindestens vier Berichte erstellt werden (OP-Bericht, Verlegungsbericht, Echobericht, Austrittsbericht). Diese moderne Beschleunigung der Medizin führt nicht nur zu einem noch grösseren administrativen Aufwand, welcher auf den Schultern der jungen Assistenzärztinnen und -ärzte liegt, sondern sie erhöht vor allem auch die Beanspruchung. In immer kürzerer Zeit muss immer mehr geleistet und ermöglicht werden.
Dazu trägt auch bei, dass heutigen Patient:innen, sowie deren Angehörigen, viel mehr erklärt und mit ihnen besprochen werden muss. Das Stichwort heisst Doktor Google. Dieser weiss alles und das sowieso besser. Die Patient:innen von heute sehen uns Ärzt:innen deshalb schon lange nicht mehr als die Götter in Weiss, von denen Herr Lüscher in seinem Editorial [1] spricht. Als junge Ärztin muss ich oft rechtfertigen und beweisen, dass ich wirklich nur das Beste für meine Patient:innen will. Auch das bedeutet Mehrarbeit.
Die Forderung der Begrenzung der Arbeitszeit auf 42+4 Stunden pro Woche (42 Stunden Dienstleistung an Patientinnen und Patienten plus vier Stunden strukturierte Weiterbildung) für Assistenzärzt:innen ist längst überfällig. In der Schweiz sieht der Standard für die meisten Arbeitnehmenden in einem 100%-Pensum schon seit langem eine 42-Stunden-Woche vor. Eine reguläre Mittagspause ist obligatorisch und wird auch bezogen, dazu kommt zweimal täglich eine kurze Kaffeepause. Als Assistenzärztin hatte ich stets Verträge mit 50 Stunden Sollarbeitszeit pro Woche. Diese Zeit wurde sehr regelmässig überschritten. 7 Nächte in Folge mit geplanter 74-Stunden-Woche waren ebenfalls die Regel. Mittagessen war immer eine Stressangelegenheit. Entweder war eine Weiterbildung in der Mittagspause eingeplant oder wie so oft klingelte das Telefon mit Fragen von Pflegenden, Patienten oder ihren Angehörigen oder es gab einen Notfall, der mich vom seltenen Mittagstisch aufspringen liess. So waren der Selecta-Automat und Schokolade mir und meinen Kolleg:innen oft die Rettung. Ob meine Koronarien darunter gelitten haben, werde ich irgendwann erfahren.
Warum haben wir als Ärzteschaft es nötig, nach aussen zu zeigen, wie hart wir doch sind, weil wir ein «120%-Pensum» als Minimum haben? Reicht es denn nicht, sich der grossen Verantwortung gegenüber den Patientinnen und deren Leben bewusst zu sein? War es wirklich so viel besser, total übermüdet 72 Stunden am Stück zu arbeiten? Hatten die Ärzte früher kein schlechtes Gewissen gegenüber den Patient:innen, wenn sie sich vor Müdigkeit kaum mehr konzentrieren konnten? Sind früher keine Fehler passiert? Und wie sieht es mit dem Gewissen gegenüber der eigenen Familie aus? Hatte die harte, ältere Ärzteschaft keine Partnerinnen oder Partner, Kinder, Geschwister, Eltern oder Freunde, die Zeit von ihnen einforderten? Hatten sie nie ein schlechtes Gewissen? Ich stelle hier gerne eine provokative Frage in den Raum: Könnte dieses Gewissen und eine allgemeine Unzufriedenheit vielleicht die Ursache für das von Herrn Lüscher [1] beschriebene zwischenmenschlich schwierige Verhalten der grossen Koryphäen gewesen sein? Reagiert ein zufriedener Mensch so, wie es in Herrn Lüschers Editorial geschildert wird? War es den Ärzten früher nicht auch einfach zu viel?
Das Beispiel der Luftfahrt, das Herr Lüscher [1] ebenfalls zitiert, zeigt es überdeutlich: In dieser Branche ist es schon seit Jahrzehnten undenkbar, dass ein Pilot oder eine Pilotin die vorgeschriebenen Ruhezeiten nicht einhält. Aus gutem Grund. Das Arbeitsgesetz ist nicht einfach eine Wohlfühlnorm, sondern es schützt die Gesundheit von Patient:innen und Ärzt:innen. Es ist niemandem gedient, wenn teuer ausgebildete Ärzte aus Überlastung den Beruf verlassen oder ihn krankheitshalber aufgeben müssen.
Auch der Wunsch nach Teilzeitarbeit ist berechtigt und entspricht dem Zeitgeist. Schon seit 2005 sind die Frauen im Medizinstudium in der Überzahl. In der Ärzteschaft holen sie entsprechend auf und werden über kurz oder lang die Mehrheit stellen. Nun ist es aber immer noch so und es wird sich nicht ändern, dass Frauen die Kinder der nächsten Generation austragen, gebären und oft in der Anfangszeit des jungen Kinderlebens als Mütter präsent sein müssen. Dies führt konsequenterweise dazu, dass Frauen neben diesem 24/7-Job als Mutter das Pensum als Ärztin zurückstellen müssen. Aber auch die Väter möchten im Vergleich zu früheren Zeiten vermehrt ihren Teil zum Familienleben beitragen und deswegen ihr Pensum reduzieren. Dabei haben wir noch gar nicht über das grosse politische Problem mit den Kinderbetreuungsplätzen gesprochen, die eine sehr teure Mangelware mit teils unglaublichen Wartefristen sind, so dass manche gar zur Teilzeitarbeit gezwungen sind. Die Schweiz ist – so fortschrittlich und modern sie im Bereich der Medizin sein mag – gesellschaftlich immer noch, und gerade mit Blick auf die familienexterne Kinderbetreuung, sehr patriarchal und rückständig eingestellt.
Meines Erachtens ist es zudem ein Irrglaube, zu denken, dass Leute, die Teilzeit arbeiten, faul oder verweichlicht sind und lediglich das Leben auf der Sonnenseite geniessen möchten, ohne einen Effort zu leisten. Nein, es geht ganz bestimmt nicht darum, dass immer alles easy und fun sein muss. Im Gegenteil: Teilzeitangestellte sind oft hoch motiviert und zeigen ein hohes Verantwortungsgefühl gegenüber sich selbst, ihrem Arbeitgeber und ihren Pflichten. Sie teilen sich ihre Kräfte und Zeit mit Perfektion ein. In der Zeit, in der sie arbeiten, wollen sie zu 100% bereit und ausgeglichen zugleich sein. Sie wollen nicht in die Situation kommen, dass sie ihren Stress und ihre Wut auf ihre persönlich vielleicht unbefriedigende Situation an Untergebenen auslassen, Türen knallen und mit Messern oder Stühlen um sich werfen. Sie nehmen ihre Arbeit ernst und versuchen, ihre Doppel- und Dreifachbelastung bestmöglich zu bewältigen. Zum Beispiel Teilzeitarbeitende mit Familie: Sie meistern jeden Tag aufs Neue einen Balanceakt zwischen Beruf und Familie und halten stets einen Notfallplan bereit, um stressresistent und flexibel zu bleiben. Wie schaffe ich es, dass mein Kind richtig angezogen zur richtigen Zeit in der Kita ist und ich frisch geduscht pünktlich die Visite starten kann? Was mache ich, wenn die Kita anruft, weil das Kind Fieber hat? Wie komme ich pünktlich aus dem Spital, weil ich das Kind abholen muss, da die Kita schliesst? Wann kaufe ich wie ein, damit etwas zu Essen auf den Tisch kommt? Wann lese ich die neusten Guidelines nach? Wie erfülle ich meinen Weiterbildungsauftrag? Teilzeitarbeitende sind oft diejenigen, die gefühlt drei Leben in eins packen müssen. Von fehlender Resilienz zu sprechen ist ein Hohn. Ich möchte gerne wissen, wie viele Stunden Care-Arbeit aufs Konto der Götter in Weiss aus früheren Zeiten gehen. Hier wäre viel Dankbarkeit und Demut angebracht, gegenüber den Menschen, die den Vollzeitarbeitenden früher und heute den Rücken freihalten und sicherlich so auch einige grosse Karrieren gar erst ermöglicht haben.
Der Beruf als Arzt oder Ärztin ist auch für die heutige, junge Generation weiterhin nicht nur ein Broterwerb. Dafür investieren sie schon im Studium zu viel. Der Arztberuf ist auch heute noch eine Berufung und eine Passion. Aber die Gesellschaft und die Zeiten haben sich geändert. Der Beruf muss sich diesen Veränderungen anpassen und sich modernisieren. Jeder und jede muss heutzutage nicht mehr nur die Berufsrolle in Perfektion meistern, ein jeder und eine jede hat im Leben noch weitere Rollen zu erfüllen. Deshalb ist es nicht falsch und hat auch nichts mit Opfer sein zu tun, wenn die jungen Ärztinnen und Ärzte aufstehen und dafür kämpfen, ihren Traumberuf wirklich zum Traumberuf zu machen. Nein, sie tun genau das Richtige und beweisen damit grosses Engagement und viel Leidenschaft. Denn wie ihre Patient:innen haben die jungen Ärzte und Ärztinnen auch nur ein Leben – ein Umstand, dessen sich jeder Held in Weiss bewusst sein sollte.
1 Lüscher T. Ein Paradoxon zum Nachdenken. Cardiovasc Med. 2023;26(4):107-109.

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